Konzernführung, Hirnforschung und Dalai Lama

Über die Bedeutung der modernen Neurowissenschaften für Konzepte von Coaching und Training

Heidrun Strikker ist Geschäftsführerin der Unternehmensberatung SHS CONSULT GmbH Bielefeld, Trainerin und Coach. Von 2005 bis 2010 war sie als Projektleiterin der Präsenzphase Coaching im Fernstudiengang "Coaching und Moderation" an der Universität Bielefeld tätig. Sie begleitet zahlreiche Veränderungsprozesse in Unternehmen und Banken.

2009 kam der Dalai Lama mit seinem Team nach Frankfurt und veranstaltete eine Reihe hochkarätig besetzter Diskussionen. Eine kreiste um das Thema "Intuitives Verstehen und Empathie", eine der letzten großen Fragen der Hirnforschung. Heidrun Strikker war dabei. Im Interview mit Birgitta M. Schulte erläutert sie ihre Beweggründe:

Im letzten Jahr bin ich zum Dalai Lama gefahren, weil ich mir eine Auszeit gönnen wollte. Ich wollte sinnvolle Anstöße für meine Aufgaben bekommen und prüfen, ob ich auf dem richtigen Weg bin. Ich hatte zu dem Zeitpunkt verschiedene Aufträge ausgeführt, einer hat mich richtig begeistert. Ich konnte einen Changeprozess begleiten, bei dem der neue Geschäftsführer eines mittelständischen Unternehmens wirklich wollte, dass jeder einzelne Werksmitarbeiter die Vorgaben und Ziele des Unternehmens versteht und ganz genau weiß, welchen Beitrag seine Arbeit im Werk dem Ganzen zuliefert. Das hat mich sehr angerührt. Ich hatte in diesem Werksleiter einen verbindlichen und glaubwürdigen Menschen gefunden. Er hatte mich anfangs gefragt: Frau Strikker, ich will, dass jeder Werker mitmacht. Wie geht das methodisch? Wir haben gemeinsam eine Idee entwickelt, wie der Prozess erst Top Down und dann Bottom Up gestaltet werden kann.

Wochen später habe ich eine Postkarte erhalten. Ein Mitglied des mittleren Managements schrieb, dass in der Firma nach wie vor die erarbeiteten Aufgaben und Ziele umgesetzt werden, dass die Motivationskraft aus dem - wie wir es genannt haben - "Zieleprozess" ungebrochen ist, und dass er sagen könne, dass wir etwas Nachhaltiges geschaffen hätten. Das hat mich beeindruckt und sehr gefreut, vor allem, weil der Betrieb einige Wochen Kurzarbeit machen musste und erst zum Jahresende die Produktion wieder hochfahren konnte. Da konnte ich sagen: so eine Arbeit macht wirklich Sinn für mich. Das ist aber nicht selbstverständlich, in vielen Unternehmen wird nicht so ernsthaft an den Zielen - und an den Mitarbeitern - festgehalten.

Deshalb war ich beim Dalai Lama, weil ich mir die Frage stellen wollte: kann das Management überhaupt noch die richtige Zielgruppe für mich sein? Will ich mit Führungskräften arbeiten, die sich nicht wirklich einsetzen? Wieweit glaube ich ihnen, dass sie ernsthaft an Prozesse herangehen? Ich hatte einige konträre Erfahrungen gemacht und war misstrauisch geworden, inwieweit es wirklich Veränderungsbereitschaft oder Veränderungsfähigkeit gibt in den Chefetagen. Das habe ich beim Dalai Lama reflektiert.

Es gab Vorträge aus dem Bereich der Neurowissenschaften und Neurobiologie, zum Beispiel des Hirnforschers Gerald Hüther, und eine Diskussion der Neurowissenschaftlerin Tania Singer von der Universität Zürich mit dem Molekularbiologen und buddhistischen Mönch Matthieu Ricard, der der offizielle Französisch-übersetzer des Dalai Lamas ist. Was haben Sie mitgenommen?

Die Referenten und Referentinnen haben bestätigt, was ich erlebe: dass wir nur mit unserer inneren Haltung und durch Steuern der eigenen Emotionen Veränderungen in uns und unseren Systemen hervorbringen. Das ist im Wesentlichen die Erkenntnis der Neurowissenschaften und eben auch des Dalai Lamas und seines ganzen Stabes. Natürlich müssen wir als Trainerinnen und Coaches analytisch und strategisch vorgehen und genau überlegen, was wir erzielen wollen, aber wenn wir - und unsere Partner in den Unternehmen - nicht unsere eigenen Gefühle in Verbindung bringen können mit dem, was wir erreichen wollen und sollen, dann gelingt es nicht.

Was im Einzelnen liefert denn die Neurowissenschaft an neuen Erkenntnissen und wie wurden sie hergeleitet?

Was die Neurowissenschaft heute feststellt, ist - pragmatisch gesagt - dass ein Sympathieeffekt, also die Bereitschaft, sich jemandem zu öffnen und mit ihm positiv zu kommunizieren, nur dann entsteht, wenn die Menschen die Fähigkeit haben, den anderen emotional zu erfassen und mitzuempfinden, was in ihm vorgeht. Dieses Mitempfinden läuft spontan und unbewusst ab, es wird über Spiegelneurone aktiviert. Und zwar werden ganze Neuronen-Netzwerke abgefeuert, wenn wir jemandem begegnen und wir das Gegenüber in Windeseile "scannen" und spiegeln. Das wechselseitige Spiegeln funktioniert über blitzschnelle Beobachtung und Wahrnehmung, die mit dem eigenen emotionalen Erfahrungsgedächtnis verknüpft wird. Wir können aber nur nachempfinden, was wir selbst als Erfahrung gespeichert haben. Je mehr unterschiedliche Erfahrungen wie also sammeln, desto eher können wir andere Menschen spontan erfassen. Die Spiegelneuronen-Netzwerke schalten sich übrigens nur bei der Beobachtung von Lebewesen ein. Das gleiche Verhalten eines Roboters löst neuronal nichts aus.

Die Spiegelneurone wurden von einer Arbeitsgruppe um Giacomo Rizzolati an der Universität Parma so benannt, die diese speziellen Nervenzellen in der unteren prä-motorischen Hirnrinde von Affen entdeckte, dort, wo zielgerichtete Handlungen geplant und gesteuert werden. Es konnte gemessen werden, dass eine Spiegelnervenzelle nicht nur dann "feuerte", wenn der Affe selbst die Hand ausstreckte, um nach einer Nuss zu greifen, sondern auch dann, wenn er einen anderen Affen dabei beobachtete. Joachim Bauer, Internist, Psychiater und Facharzt für Psychosomatische Medizin an der Universitätsklinik Freiburg, stellt in seinen Büchern dar, dass sich Spiegelzellen auch beim Menschen nachweisen ließen und dass sie intuitives Verstehen ermöglichen.

Das ist die Forschung von Tania Singer, der Tochter des Hirnforschers Wolf D. Singer aus Frankfurt, die selbst Psychologin ist, aber an der Universität Zürich als Professorin in der Hirnforschung arbeitet. Sie interessiert sich besonders für Mitgefühl, Empathie und Mitempfinden und wie man diese Gefühle aufbaut. Tania Singer hat durch ihre Versuchsstudien belegt, dass der im Körper erlebte Schmerz dadurch zu Bewusstsein kommt, dass bestimmte Zentren im Gehirn aktiviert werden. Die "Insula" (Körperkarte der inneren Organe) und der Anteriore Cinguläre Cortex (ACC) feuern aber nicht nur dann, wenn jemand selbst körperlich verletzt wurde, sondern auch dann, wenn eine Person sieht, wie eine andere Person sich verletzt oder kurz davor ist. In den Schmerzzentren gibt es also auch Spiegelneurone. Vereinfacht sagt Prof. Joachim Bauer jetzt: "Wir besitzen vernetzte Nervenzellen für Empathie und Mitgefühl." Dabei sind die Forschungen am Menschen noch nicht so ausgereift. Wir wissen im Moment mehr über die Affen und mehr über Spiegelnervenzellen im Zusammenhang mit Bewegung. Aber die bildgebenden Verfahren lassen auch beim Menschen erste vergleichbare Rückschlüsse zu. Auf jeden Fall ist es so, dass die von Tania Singer beobachteten Nervenzellen "Mitgefühl" auslösen, ein im wörtlichen Sinn gemeintes Mit-Leiden. Wenn bei einer verletzten Person Stress durch Schmerz entsteht, dann fühlt auch die beobachtende Person Stress und wendet sich womöglich ab, um nicht stärker mitzuempfinden. Es kann auch sein, dass jemand vor lauter Mit-Leiden zerfließt und deshalb nicht in der Lage ist zu helfen. Es ist alles nicht so einfach mit der Empathie.

Es gibt also doch keine Neurone für Empathie?

Tania Singer versteht unter Empathie die Fähigkeit, sich in andere einzufühlen bis zum Mitvergehen im Leid. Im buddhistischen Zusammenhang wird von "Mit-Empfinden" gesprochen. Das findet an einer anderen Stelle im Gehirn statt. Mit-Empfinden setzt Distanz voraus, man nimmt sich selbst ein wenig zurück. Es ist wie ein warmes Gefühl der Sorge um einen anderen, das mit einem Handlungsimpuls verknüpft ist. Die Frage von Tania Singer und Matthieu Ricard ist nun, ob man Mitempfinden lehren und lernen kann. Sie untersuchen die Wirkung von Meditation und Geistestraining auf das Gehirn. Matthieu Ricard begibt sich freiwillig in die Röhre der Computertomografie und hält über Stunden Mitgefühl aufrecht. Er hat das viele Jahre intensiv gelernt, er ist als Mönch ja einer der engsten Vertrauten des Dalai Lama. Und die Computer bei bildgebenden Verfahren zeigen an, wann das Mitempfinden ausgelöst und stimuliert wird, welche Hirnregionen beteiligt sind und was man tun muss, damit es entsteht und anhält. Im NLP würde man sagen, du kannst Mitempfinden über deine Beobachtung steuern, indem du mit jemandem in Rapport gehst und ihn spiegelst. Es entsteht, wenn du gut kalibrieren kannst und insofern die Erfahrung, die das Gegenüber macht, durch deine eigenen Erfahrungen durchfilterst, ähnliches empfindest und mit deinem Körper unmittelbar auf den anderen reagierst. Das geht viel schneller als du denken kannst. Dadurch entstehen spontane Sympathieeffekte. Aber nur soweit - das ist die Einschränkung - wie dein Spiegeln kongruent und ehrlich ist. Jede kleine Inkongruenz führt dazu, dass der Sympathieeffekt sofort gelöscht wird. Das kann man alles mit bildgebenden Verfahren prüfen.

Und wie hat sich die Beschäftigung mit diesen Themen bei der Großveranstaltung des Dalai Lama in Frankfurt auf Ihre persönliche Frage ausgewirkt?

Viele der heutigen Thesen könnte ich durch meine Erfahrung bestätigen, auch einige der z.B. im Heidelberger Milton-Erickson-Institut im September 2009 vorgestellten Methoden sind mir so oder ähnlich lange aus der Sprachwissenschaft und dem NLP bekannt. Immerhin entsteht eine neue Begrifflichkeit und damit werden Dinge neu betrachtet. Ich habe das Neue bei den Neurologen und Neurowissenschaftlern gefunden, und darüber bin ich sehr froh, weil Neuro-Linguistisches Programmieren schon immer mein Ding war. Joachim Bauer sagt: Sprache ist verstandenes Handeln. Wir reden miteinander, um wieder in ein Handeln zu kommen, das auf Verständnis voneinander basiert. Das ist für mich immer schon ein starker Antrieb. Aber in den letzten Jahren hat sich die Kultur in vielen Unternehmen sehr verändert. Vor allem Führungskräfte im mittleren Management stehen jeden Tag unter unglaublich hohem Zeitdruck und unter Dauerstress. Von oben kommen ständig neue Anforderungen, unten sehen sie, wie schwer sich sie sich umsetzen lassen. Viele arbeiten von morgens bis in die Nacht, weil sie wirklich ihren Mitarbeiterinnen oder Kollegen helfen und die Dinge zum Guten verändern wollen. Aber sie bemerken kaum noch, wie es ihnen oder den anderen innerlich geht. Ich glaube, dass solche belasteten Menschen ihre Unruhe überall verteilen. Auch das ist eine emotionale Spiegelung - nur ist das nicht das, wofür ich gern arbeite. Der Dalai Lama sprach vom inneren Funken, vom inneren Licht eines jeden Menschen, den wir untereinander verstärken sollten - das ist ein Bild, das mir sehr gefällt.

Spiegelneuronen funktionieren sozusagen automatisch, das ist Teil unseres Menschseins. Ist die Frage "Lässt sich Mitempfinden lernen?" der Versuch, das menschliche Miteinander zu optimieren?

Ich glaube nicht, dass viele Menschen wissen, dass sie wirklich ununterbrochen intuitiv auf andere Menschen reagieren - selbst wenn sie nur an andere denken. Diejenigen, die mit ihrem "Bauchgefühl" bewusst umgehen, wissen genau, dass das der sichere Auslöser ihrer Entscheidung ist. Der gebürtige Portugiese Antónia Damásio, auch ein Neurologe und Professor für Psychologie an der University of Southern California in den USA, hat das in seiner Theorie der somatischen Marker ja herausgearbeitet, dass wir exakte und untrügliche körperliche Signale für "gut/ schlecht für uns" haben.

Antónia Damásio hat die Theorie aufgestellt, dass der Mensch im Laufe seines Aufwachsens alle Erfahrungen in einem Erfahrungsgedächtnis speichert. Dieses Erfahrungsgedächtnis gibt körperliche Signale, wenn wir uns bestimmte Handlungsalternativen vorstellen. Diese Signale nennt Damásio "Somatische Marker". Er hat sie auch im Gehirn lokalisiert, die präfrontalen Rindenfelder sollen der Ort sein, der die Ausbildung von somatischen Markern erlaubt.

Mit den bildgebenden Verfahren wird jetzt nachgewiesen, dass diese körperlichen Signale untrüglich sind. Wir können sie gut für unsere Entscheidungen nutzen, aber nur, wenn wir sie auch kennen und nicht, wenn wir über sie hinweggehen. Dann werden wir gestresst, krank, überfordert. Was mich sehr nachdenklich gemacht hat, sind die Untersuchungen zu emotionaler Bindung bei der Geburt. Man weiß schon lange, dass der Mensch vermutlich schon vorgeburtlich, aber auf jeden Fall mit dem Zeitpunkt der Geburt von seiner Mutter - oder vergleichbar intensiv von Menschen - möglichst liebevoll angenommen werden muss so wie er ist, ohne Vorbehalt. Um aber diese tief wirkende Erfahrung von Zugehörigkeit und Sicherheit tatsächlich abzuspeichern, um für ein späteres Leben die Grundlage für emotionale Bindung und Selbständigkeit zu haben, ist möglicherweise die Zeitspanne unglaublich kurz. Joachim Bauer spricht von wenigen Stunden nach der Geburt, in denen sich die entsprechenden neuronalen Schaltungen vernetzen. Die nötigen Anti-Stress-Gene werden ebenfalls in dieser knappen Zeit ausgelöst und auf den neuronalen Weg geschickt, dann baut sich Stabilität und eine Art Stressresistenz auf und später bist du innerlich auch dann gut ausgestattet, wenn nicht immer alles nur positiv um dich herum verläuft. Dieses Forschungsergebnis setzt natürlich viele Gedanken über Konsequenzen frei.

Das sind Ergebnisse der Bindungsforschung, der Säuglingsforschung, das ist ja nicht so neu.

Ja, ich war überrascht, dass die Neurologen sagen: wir haben unterschätzt, wie außergewöhnlich wichtig die frühkindliche Prägung ist. Und dass sie bisher nicht wussten, wie sich Anti-Stress-Hormone entwickeln. Fehlende Zugehörigkeit und Ausgrenzung machen Angst und lösen beim Säugling Panik und tiefen Schmerz aus - da kann sich keine positive, stabile Grunderfahrung aufbauen. Im Gegenteil - Ausgrenzung wird dann mit physischem Schmerz gekoppelt. Heute erkennt man, dass Gene allein gar nichts festlegen, sondern erst durch Prozesse ausgelöst werden, die im Gehirn ablaufen. Ein Beispiel ist das Anti-Stress-Gen, das durch emotionale Bindung gebildet oder nicht gebildet wird. Wenn es um die Bedeutung des Zugehörigkeitsgefühls geht, dann spielt auch Säuglingsforschung hinein, Traumaforschung, Forschung zu Kriegskindern - die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler tauschen sich übergreifend aus. Es ist eine interdisziplinäre Zeit im Moment. Da kommen eben viele Erkenntnisse zusammen von verschiedenen Seiten. Wenn wir mit Arbeitslosigkeit oder der Ausgrenzung von vielen Jugendlichen politisch umgehen wollen, dann wird das virulent.

Im Anschluss an die Amokläufe und die Ausschreitungen in U-Bahnen von Jugendlichen wird ja jetzt auf die Hirnforschung geschaut. Hat sie Erklärungen?

Die meisten der gewaltbereiten Jugendlichen fühlen sich ausgegrenzt und Ausgrenzung löst - als tief sitzende Angst vor Isolation - Aggression aus im limbischen System. Wenn emotionale Bindung nicht da ist, dann tritt etwas anderes an die Stelle: Panik, Wut, Unsicherheit, und dann muss sich jemand verteidigen. Das ist dann schon Teil der Persönlichkeit. Du kannst etwas anderes dagegen setzen, das stärker und machtvoller ist, was dich mehr begeistert als draufzuschlagen, aber solange Menschen emotionale Bindung nicht kennen, gehen sie mit der Intensität, die sie fühlen - dann ist ihr Schmerz etwas, was der andere auch erleben soll. Ich weiß nicht, ob ich gewaltbereiten Jugendlichen helfen kann, aber Kinder und Jugendliche sind Gruppen, die ich unbedingt unterstützen möchte. Junge Leute haben mich schon immer sehr berührt, sie brauchen gute Vorbilder und mitfühlende Erwachsene. Das ist mir ein großes Anliegen. Ich möchte mich für neue Zielgruppen öffnen.

Sie öffnen sich neuen Zielgruppen? Warum? Bisher war ja das Management Ihre Zielgruppe.

Dort gibt es ja auch nach wie vor wichtige Zielgruppen, z. B. Frauen in Führungspositionen. Viele erleben ja immer noch das Phänomen, dass sich die fehlende Zugehörigkeit zur Gruppe der Männer als ein ständiges Problem im Alltag darstellt - egal, wie engagiert sie selbst sich integrieren wollen. Die angesprochenen Themen berühren auch noch anderes in Unternehmen. Die Zugehörigkeitsthese öffnet z.B. den Blick dafür, dass Migrationshintergrund den Anschluss an eine Gemeinschaft verhindert - sei es die Gesellschaft oder ein Unternehmen. Das müsste Konsequenzen haben - für Unternehmenskulturen, für Organisationskulturen, für den Umgang von Führungskräften mit Mitarbeitern. Unternehmen bräuchten, das sehen wir jetzt, eine Kultur, in der Zugehörigkeit einen großen Stellenwert hat - schwierig in Zeiten von Change, wo Unternehmen aufgelöst oder schlecht fusioniert werden. Mein Grundgedanke in "Komplementärcoaching" war deshalb, Berater und Führungskräfte dafür zu sensibilisieren, dass rein wirtschaftlich-rationale Entscheidungen fatale Auswirkungen auf die Unternehmenskultur und die emotionale Bindung im gesamten Unternehmen haben können, bis zu jedem verbleibenden Mitarbeiter und Kunden. Auch Mitarbeitern, die seit Jahren dabei sind, muss klar werden, wenn sie Dienst nach Vorschrift machen, weil ihnen Veränderungen persönlich nicht gefallen, dann ist das keine isolierte Entscheidung, sondern beeinflusst das gesamte Umfeld, dann wird nichts besser, sondern nur noch schlechter, auch persönlich. Solche Haltungen, die die eigene Verantwortung am Ganzen zurücknehmen, machen zukunftsfähige Veränderungen in Unternehmen kaputt. Veränderung und Zugehörigkeit gehören zusammen - aber nur, wenn man das auch fühlen kann.

Die Bedeutung des Zugehörigkeitsgefühls ist Ihrer Wahrnehmung nach in letzter Zeit durch die Diskussion zwischen Pädagogik, Psychologie und Hirnforschung herausgearbeitet worden. Und Sie sehen in den Unternehmen keine Bereitschaft, diese Diskussion aufzunehmen?

Es gibt natürlich Unternehmer, die sich Gedanken machen oder auch etliche Stiftungen, die wie die Bertelsmann-Stiftung dazu forschen und spannende Diskussionen führen. Aber die vielen Führungskräfte, die eine andere als die eigene Ethik vertreten müssen, oder Manager in mittleren Führungsebenen, die selbst nicht von Zugehörigkeitsritualen gehalten werden, können auch den Mitarbeitenden nicht vermitteln, dass sie wichtig sind und dazugehören. Dann dreht sich jeder nur um sich selbst und allen geht es schlecht. Ich habe in dem Unternehmen, das ich anfangs erwähnte, erlebt, dass mehr möglich ist. Aber das bedeutete auch, dass Führungskräfte Wort halten und erfassen mussten, was von ihnen an Glaubwürdigkeit gefordert wurde für die emotionale Bindung und Zugehörigkeit der Mitarbeitenden. Ich habe dort z.B. mit den Teamleitern gearbeitet, großen Kerls mit Tattoos und knappen Gesten. Die Arbeit im Workshop lief offen und engagiert ab, gute Ideen kamen zusammen, und die Gruppe wurde sich einig, was zu tun war. Ein Schichtleiter, ein baumgroßer Mann, stand bei ihrer Präsentation mit verschränkten Armen vorn und sagte zum anstehenden Beginn der Umsetzungsphase: "Wenn ihr Chefs nicht euer Wort haltet, könnt ihr die Werker vergessen, dann kommen wir nie wieder an den Besprechungstisch". Alle Rahmenbedingungen waren geklärt, es gab aber noch Misstrauen gegenüber der ersten Managementebene, ob die alles gewährleisten würde, so dass die Werker am Band Rückendeckung haben. Die Geschäftsleitung hat sie gegeben und ihr Wort auch in den kommenden Monaten gehalten, obwohl schwierige Zeiten auf alle zukamen - das war eine tiefe Freude für mich.

Der Werksleiter hat sich anders verhalten als die erste Managementebene?

Ja, da waren einige sehr verhalten. So ein Prozess passiert nur, wenn die entscheidende Führungskraft sagt: ich bin da, und ich bin in zwei Jahren auch noch da, und wir werden den Prozess weiterführen, sonst bräuchten wir jetzt gar nicht anzufangen. Solche Menschen zu finden, die glaubwürdig sein wollen, auch für sich selbst, das passiert nicht so oft. In anderen Unternehmen trifft man Führungskräfte, die Veränderungen im Unternehmen in erster Linie mit Karriere koppeln und nicht mit Glaubwürdigkeit gegenüber ihren Mitarbeitern. Die blicken nach oben und nicht nach unten. Sich diese Phänomene aus der Perspektive der Neurowissenschaft anzugucken, finde ich immer wichtiger. Ich frage mich: was mache ich im Coaching mit meinen Erkenntnissen? Kann ich davon etwas vermitteln und bewusster machen? Wie kann ich am sinnvollsten arbeiten? Und wie gelingt es mir, meinen tiefsten Wunsch umzusetzen, dass Menschen ihren Zugehörigkeitskontext finden?

Wenn das Zugehörigkeitsgefühl mit emotionaler Bindungsfähigkeit verknüpft ist, und die sich in den ersten Lebensmonaten aufbauen muss, dann ist das ja auch sehr schwer an erwachsene Manager zu vermitteln.

Mein tiefster überzeugungssatz ist: Jeder Mensch ist lernfähig. Ich glaube nicht, dass irgendetwas endgültig ist. Ich glaube, dass wir bestimmte Dinge nur nicht in der Intensität nachholen können, in der man sie als junger Mensch oder als Kind erlebt hätte. Und ich glaube, dass es neue Erfahrungen geben kann, wenn z. B. wir als Coach gut aufpassen, wo wir andocken beim Coachee. Das Gehirn hat ja, und das beweisen die Neurowissenschaften jetzt, eine Plastizität, es können sich neue Bahnen und neue Vernetzungen aufbauen. Das ist nicht unbedingt leicht, aber wenn bestimmte Wissenselemente zusammengetragen werden, dann kann der Lern-Prozess, sich zugehörig zu fühlen, beschleunigt werden. Das habe ich in dem genannten Unternehmen erlebt. Da hat sich ein anderer Werker aus seiner verschränkten Armhaltung gelöst und gemeldet mit: "Ich arbeite hier seit dreißig Jahren und in meinem ganzen Berufsleben bin ich noch nie so gut informiert worden wie jetzt. Das finde ich gut." Für solche Momente lohnt es sich zu arbeiten.

Wenn ich Sie richtig verstehe, dann ist es schon immer Ihre Grundhaltung gewesen, den Menschen das ihnen gut Tuende zu ermöglichen. Ihr Coaching im Unternehmen war auch immer an dieses Ziel gekoppelt, aber - da scheint es ein Aber zu geben?

Das Aber habe ich oft nicht ausgesprochen. Ich habe heute im Vergleich zu früheren Jahren, vor allem, als ich selbst lange intern im Management beschäftigt war, eine veränderte Sicht der Welt und will jetzt meinen Beitrag leisten. Im letzten Sommer habe ich deshalb kurz überlegt, ganz aus dem Management herauszugehen und in einen Bereich zu wechseln, wo es mehr Zeit für Entwicklung gibt, und Menschen meine Kompetenz anders nutzen können. Ich habe aber seit Jahren gute Beziehungen zu meinen Kunden, und gerade jetzt kommen viele Anfragen aus Unternehmen. So bin ich dazugekommen, in Vorträgen, in Coachings und Workshops einfach viel mehr transparent zu machen und neue Informationen mit möglichst allen anstehenden Themen zu verbinden - und mehr dafür zu sensibilisieren, was in den Menschen vorgeht. Ich möchte, dass sie ein lohnendes Lernfeld für sich entdecken. Ich wünsche ihnen mehr sinnvolle Zeit für sich, gerade im Management. Die Gratwanderung zwischen Beratung und Coaching gehe ich bewusst ein. Ich bin nicht nur diejenige, die sich für die Menschen zur Lösung von Problemen die passende Methode ausdenkt, so dass sie indirekt oder abstrakt lernen, sondern ich bringe mein Mitempfinden, meine Werte und mein Wissen mit ein, offen und klar.

Sie denken an andere Felder, neue Aufgaben? Nun würde man Unternehmen aber doch gerade für die Orte halten, von denen aus gesellschaftlich viel bewegt wird und auch viel verändert werden kann.

Das ist richtig, aber es gibt hier nur wenig Zeit für Entwicklung. Und es gibt zu wenige Personen, die es aushalten, den Mitarbeitenden über längere Zeit Rückendeckung zu geben. Viele Außenfaktoren wirken mittlerweile auf Unternehmen ein - einige Familienunternehmen halten in Deutschland noch dagegen. Viele Führungskräfte haben - ebenso wie ich als Externe - nur geringen Einfluss auf ihre systemische Positionierung, politische und taktische Manöver wechseln in rasanter Zeit. Immer noch und viel zu häufig sollen durch Beratung und Coaching situativ "Brandherde" gelöscht werden oder Menschen einfach nur anpassungsfähiger werden, ohne dass sich der Kontext damit verändert. Das ist für Coaching und Beratung generell nicht gut. Was ich möchte, ist so etwas wie eine neue Didaktik von Führung und Veränderung. Für mich zeigt sich, dass Entwicklung und Veränderung komplementär zu Bindung und Zugehörigkeit sind. Ich möchte - für den gesellschaftlichen und den unternehmerischen Kontext - wissen, wie kommt man zum größeren Ziel, und dann auch, was ist der Beitrag des oder der Einzelnen. Mir geht es darum, dass die Unternehmen oder Organisationen ihre Bindungsfähigkeit erhöhen. Ich will dazu beitragen, dass Menschen sich mehr zutrauen, ihre eigene Veränderungskompetenz fühlen und mehr Eigenverantwortung wachrufen.

Eine "neue Didaktik von Führungsprozessen" wäre eine Form von Organisationsberatung, die einen hohen gesellschaftlichen Stellenwert hat. Bindungsfähigkeit zu erhöhen, muss aber doch gerade individualisiert und in der Arbeit mit Einzelnen versucht werden. Ist das nicht ein Widerspruch?

Ja, so verstanden schon. Ich denke aber mehr an die Gallupstudie 2006 über Emotionale Bindung im Unternehmenskontext. Mir geht es um die Frage: wie kann ich die Leute von Anfang an bei einer Unternehmensveränderung bei der Stange halten? Welche Prozesse muss ich anstoßen, damit die Einzelnen die Veränderung mittragen können? Was muss ich antizipieren? Wohinein muss ich mich vorher einfühlen? Was muss ich als Verantwortliche erfassen von den Führungskräften und Mitarbeitenden, bevor ich loslege? Das sind nicht nur wirtschaftliche Kennzahlen, die gehören auch dahinein. In dem genannten Unternehmen stand auch Kostenreduzierung vorne an, und dadurch war klar, dass in den nächsten zwei bis drei Jahren über hundert Mitarbeitende aus Altersgründen gehen und junge Kräfte nicht neu eingestellt würden. Da war also die Frage: wie kann das Unternehmen die Erfahrung und das Wissen der älteren bewahren? Wie gehe ich im Prozess damit um? Als die älteren dann merkten, dass sie dauerhaft und ernsthaft zur Weitergabe aufgefordert wurden, war die Stimmung ganz anders. Die gingen nicht unter Wert in den Ruhestand. Das ist so einfach eigentlich, aber viele Führungskräfte machen sich keine Gedanken, was das Gefühl der Mitarbeiter für die Unternehmenskultur bedeutet. Zu viele Vorstände schauen nicht bis zu ihren Mitarbeitern, die schauen immer noch nur auf die erste Ebene der Boni-Empfänger. Und solche Unternehmen sind volkswirtschaftlich schädlich, wirklich schädlich, das hat die Finanzkrise gezeigt.

Vielen herzlichen Dank für das Gespräch,

sagt Birgitta M. Schulte


Heidrun Strikker: Komplementärcoaching. Mensch und System komplementär verbinden. Paderborn: Junfermann Verlag 2007